Doppelte Diskriminierung? Frauen mit Behinderung an der Uni

Doppelte Diskriminierung? Frauen mit Behinderung an der Uni

Sie wissen, wie man Barrieren uberwindet. Drei Frauen aus Deutschland, Kroatien und dem Irak berichten vom Leben mit Behinderung – und was Corona verandert hat.

Arwa Abdulhameed (28) studiert Soziale Arbeit an der Technischen Hochschule in Koln. Aufgewachsen ist sie im kurdischen Teil des Irak. Mit 15 Jahren hatte sie einen Unfall: “Das hat mein Leben komplett verandert.” Seitdem ist sie querschnittsgelahmt, sitzt im Rollstuhl. Zur medizinischen Versorgung zog sie mit ihren Eltern nach Deutschland.

Sie braucht Unterstutzung: Ein Pflegedienst kommt zu ihr, zusatzlich begleiten sie von morgens bis abends Assistenzkrafte: “Ich kann zwar meine Arme etwas bewegen, aber zum Beispiel nicht alleine essen.” Ihre Assistenzkraft stellt ihr den Bildschirm fur den Videochat mit der DW ein.

Die 28-Jahrige studiert in Teilzeit, weil sie chronische Schmerzen hat und regelma?ig behandelt werden muss. Zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland war sie gerade im Praxis-Semester bei einem Treffpunkt fur Kinder und Jugendliche: “Dann hie? es, wir mussen alles schlie?en. Da hangt man erstmal in der Luft.” Sie belegte andere Studien-Module, die online angeboten wurden. Als der Treffpunkt wieder offnete, durfte sie nicht weiterarbeiten. Als Risikopatientin mit Lungenschwache sollte sie nicht so viele Kinder treffen.

Corona-Infektion: Angst und Hoffnung

Immer noch ungeimpft infizierte sie sich im April 2021 mit dem Coronavirus: “Am vierten, funften Tag hatte ich Atemnot.” Der Rettungswagen kam, doch in Koln waren die Kliniken voll. Sie kam in eine Nachbarstadt auf die Intensivstation, ohne Assistenzkrafte, ohne Familie, wurde beatmet. Sie hatte Angst zu sterben, sagt die Studentin, aber auch Hoffnung: “Wenn ich alles andere geschafft habe, muss ich das auch schaffen!” Nach elf Tagen konnte sie nach Hause.

“Inklusion sollte selbstverstandlich sein” – Arwa Abdulhameed (re.) bei einem Ausflug mit Schwestern und Assistenzkraft (2020)

“Alles andere geschafft” – einfach war das nie fur Arwa Abdulhameed, die mittlerweile die deutsche Staatsburgerschaft hat. Schon fur die Schule zog die Familie um, auch manche Unis sind nicht barrierefrei, “mit dem Rollstuhl wurde ich gar nicht reinkommen”. Ihre Hochschule sei sehr engagiert, aber selbst hier sei mancher Weg muhsam: “Bis ich oben ankomme, ist die Halfte der Sitzung vorbei.” Auch die Cafeteria sei schwer zu erreichen: “Dann sieht man Studierende mit Beeintrachtigung umso weniger.”

Barrieren in Bauten und Kopfen

Im Studium hat sie sich mit der UN-Behindertenrechtskonvention beschaftigt, die Deutschland 2009 ratifiziert hat. Darin wird fur Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Teilhabe gefordert – auch bei der Hochschulbildung. Die 28-Jahrige stellt fest: Eigentlich mussten Barrieren in den Kopfen wie bauliche Barrieren langst weg sein. Die seien aber weder an Unis verschwunden noch in offentlichen Gebauden oder Arztpraxen. An ihrer Bahn-Haltestelle funktioniert der Aufzug seit Monaten nicht.

Jurgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, betont, “dass Inklusion nichts Nettes, nichts Karitatives ist, sondern es ist ein Menschenrecht. In Deutschland leben etwa 13 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Sie haben in unserer Gesellschaft die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen auch.” Politik und Gesellschaft mussten dafur sorgen, dass alle am gesellschaftlichen Leben teilhaben konnen.

Strukturelle Barrieren erlebt Arwa Abdulhameed bei der Auseinandersetzung mit Behorden, wenn sie um den Anspruch auf Assistenz kampfen muss. Barrieren in den Kopfen, wenn Menschen nicht sie ansprechen, sondern nur ihre Assistenzkrafte. Eine Frau druckte ihr zehn Euro in die Hand und weigerte sich, die zuruckzunehmen. Die Studentin schuttelt den Kopf: “Als wenn Menschen im Rollstuhl betteln!”

Studie: Frauen mit Behinderung doppelt benachteiligt

An der Uni konne man mit manchen Professoren sehr gut uber das Recht auf “Nachteilsausgleich” reden, etwa um Prufungen spater abzulegen, https://besthookupwebsites.net/de/nischen-dating/ bei anderen falle das schwerer. Sie wunscht sich, dass Inklusion selbstverstandlich wird und sie nicht bei jeder Praktikums- oder spater Arbeitsstelle als erstes fragen muss, ob sie barrierefrei ist. Eine Studie der Aktion Mensch hat ergeben, dass Frauen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt doppelt benachteiligt sind.

Nach einer Befragung des Deutschen Studentenwerks hatten 2016 elf Prozent der rund 2,8 Millionen Studierenden eine gesundheitliche Beeintrachtigung, die das Studium erschwert. Eine neue Befragung lauft gerade. Daten zu Lehrenden mit Behinderung liegen nicht vor.

Unis brauchen Vorbilder mit Behinderung

Es muss mehr Lehrende mit Behinderung als Vorbild geben, fordert Sasha Kosanic (46). Universitaten sollten damit werben, welche Hilfen sie Studierenden mit Behinderung anbieten. Die 46-Jahrige arbeitet als Dozentin an der John Moores University in Liverpool.

Sie wuchs in Kroatien und Slowenien auf, absolvierte dort ihr Bachelor- und Masterstudium. Aufgrund einer Zerebralparese kann sie nur eine Korperhalfte kontrolliert bewegen. Alles geht langsamer: “Ich tippe mit einer Hand.” Ohne Kreativitat geht es nicht, sagt sie: Schon als Kind musste sie Wege finden, wie sie Dinge anders hinbekommt.

Mit viel Disziplin und Einsatz: Sasha Kosanic nahm 2002 an den Winter-Paralympics in Salt Lake City teil

2002 nahm sie als Skilauferin an den Paralympics in Salt Lake City teil. Das habe sie personlich gestarkt, Disziplin und Organisationstalent geschult. Sie sagt: Viele Menschen mit Behinderung bringen solche Starken mit, sonst konnten sie ihr Leben gar nicht meistern.

Aktive Inklusion – Leistung statt Zahlen

Fur die Promotion ging Sasha Kosanic nach Gro?britannien, in der Postdoc-Phase nach Deutschland. Sie musste um vieles kampfen, sagt sie, fuhlte sich nicht richtig gesehen: “Ich wurde schlechter bewertet, als ich tatsachlich bin.” Im Sinne der Vielfalt und Nachhaltigkeit musse sich das andern. Das Bild des “perfekten Wissenschaftlers” sei oft “ein wei?er Mann”. Bei einer Befragung von Professorinnen und Professoren 2018 sagten fast 60 Prozent der Frauen, sie seien wegen ihres Geschlechts diskriminiert worden, bei den Mannern waren es nur sechs Prozent. Kosanic sieht eine doppelte Diskriminierung: als Frau und Mensch mit Behinderung.

Sasha Kosanic, Dozentin an der John Moores University in Liverpool, wunscht sich mehr Wissenschaftler mit Behinderung als Vorbilder

Man solle nicht auf Zahlen sehen, sondern auf Leistung, fordert sie. Wenn sie eine Schwerbehinderung von 70 Prozent habe und fur alles viel mehr Zeit brauche, konne man die Zahl ihrer Veroffentlichungen nicht mit der von Forschenden ohne Beeintrachtigungen vergleichen. Sie pladiert fur aktive Inklusion, “positive Diskriminierung”, und verweist auf Frankreich: Dort werden akademische Stellen ausgeschrieben, auf die sich nur Wissenschaftler mit Behinderungen bewerben konnen.

Forschungslucke: Klimakrise und Behinderung

Die Geographin arbeitet interdisziplinar, sie erforscht die Auswirkungen des Klimawandels auf die biologische Vielfalt und das Leben der Menschen. Menschen mit Behinderung seien durch extreme Klimakrisen-Folgen besonders gefahrdet. Eine Forschungslucke, sagt sie. Mit einem Forscher-Team recherchierte sie – wegen Corona aus der Distanz – die Situation in Madagaskar.

Forscherteam, das die Folgen des Klimawandels in Madagaskar untersucht hat: Mialy Razanajatovo, Ravaka Andriamihaja, Sasha Kosanic, Jan Petzold (v.l.n.r.)

Sasha Kosanic setzt sich fur Inklusion in der Bildung ein, besonders in MINT-Fachern: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. “In den MINT-Fachern sind wir wie seltene, gefahrdete Arten”, sagt sie lachelnd, dabei wisse man aus der Okologie, wie wichtig Vielfalt sei: Wissenschaftler mit Behinderung konnten Neues in die Wissenschaft bringen.

Die Corona-Pandemie habe – neben allem Leid – auch Chancen fur Menschen mit Behinderungen an Universitaten gebracht. Konferenzen seien per Video-Chat besser zuganglich. Es gebe jetzt auch virtuelle Feldforschung. Durch hybrides Arbeiten konnten Universitaten als Arbeitgeber nicht mehr so leicht argumentieren, dass sie keine passenden Arbeitsplatze einrichten konnen.

Digitalisierung und Inklusion